Nach 19 Jahren Koma:
Die durch einen Unfall geschädigten Nervenverbindungen hatte das Gehirn eines jungen Amerikaners im Laufe der Zeit durch neue Verdrahtungen ersetzt
Terry Wallis landete im Jahre 1984 mit seinem Auto in einem Fluss und wurde erst einen Tag später unter einer Brücke gefunden. Wallis hatte eine schwere Hirnschädigung erlitten. Nachem er 19 Jahre lang in einem Zustand reduzierten Bewusstseins, quasi zwischen Koma und Erwachen ("minimal conscious state", MCS) verbracht hatte, kam der Amerikaner 2003 auf wunderbare Weise wieder zu sich. Innerhalb von drei Tagen konnte er sich wieder bewegen und mit anderen kommunizieren.
Sein Erwachen ist ein einmaliger Vorgang in der Medizin. Offensichtlich ist das Gehirn in der Lage, sich in einem wesentlich größerem Umfang zu erholen und regenerieren, als bisher vermutet. Heilungsprozesse im Gehirn sind nach überwiegender Forschermeinung nur in den ersten Monaten nach einer Verletzung möglich.
Dem Wunder auf der Spur
Ein Forscherteam unter der Leitung von Henning Voss am Cornell University's Weill Medical College in New York untersuchte, was in Wallis’ Gehirn abgelaufen sein könnte. Es kam nach minuziösen Gehirnanalysen jetzt zu der Schlussfolgerung, dass die während des Unfalls beschädigten Nervenverbindungen langsam wieder Anschluss zueinander fanden bzw. durch neue geschaffene Verbindungswege ersetzt wurden. Dadurch konnte Wallis bestimmte Fähigkeiten wiedererlangen. Die Ergebnisse der Analyse wurden im Fachblatt Journal of Clinical Investigation veröffentlicht.
Die Wissenschaftler verglichen Ultraschallbilder von Wallis' Gehirn mit denen eines anderen MCS-Patienten, der sich seit sechs Jahren ohne Anzeichen einer Verbesserung im MCS befand, sowie mit denen 20 gesunder Menschen. Es stellte sich heraus, dass im Gehirn des Amerikaners neue Nervenverbindungen entstanden und die Nervenzellen neu gewachsen sind.
Dieser Erneuerungsprozess ging anscheinend auch noch weiter, nachdem Wallis sein Bewusstsein wieder erlangt hatte. So festigten sich bestimmte Nervenverbindungen, je mehr seine Genesung fortschritt. Mittlerweile kann Wallis wieder sprechen und seine Arme und Beine bewegen. Da die Forscher nicht über Ultraschallbilder seines Gehirns von vor dem Unfall verfügen, ist es jedoch schwer einzuschätzen in welchem Maße sich das Gehirn bisher regeneriert hat und inwiefern eine weitere Heilung noch möglich ist.
Behandlungspraktiken überdenken
Die Ergebnisse würden deutlich machen, dass sich das Gehirn sogar 19 Jahre nach einer schweren Verletzung von selbst regenerieren kann, kommentiert der belgische Neurologe Steven Laureys von der Universität Lüttich in der Zeischrift Nature den Fall. Ärzte würden häufig eher davon ausgehen, dass sich das Gehirn ausschließlich in den ersten paar Tagen oder Monaten nach dem Unfall regenerieren kann. Dauerpatienten würden oft als aussichtslose Fälle betrachtet. "Dieser Fall zeigt uns jedoch, dass wir die alten Dogmen überdenken und dass wir Patienten mit minimalem Bewusstsein keine Therapien vorenthalten sollten", so Laureys.
pressetext/NewScientist/GesundheitPro; 05.07.2006