Menschen in veränderten Bewusstseinszuständen und Koma

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In einer anderen Welt

Koma-Patienten:

In einer anderen Welt

Seit der Antike wird gerätselt, was ein Koma-Patient wahrnimmt. Geklärt ist das bis heute nicht

Das Erlebnis mit dem Säugling geht Thomas Kammerer, katholischer Seelsorger am Universitäts-Klinikum Großhadern in München, nicht aus dem Kopf. Der wenige Stunden alte Junge lag im Koma und wurde beatmet. „Mit Druck auf den Arm habe ich ihm gezeigt, in welchem Rhythmus er atmen soll“, sagt Kammerer. Eine Viertelstunde später konnten die Ärzte den Sauerstoff abdrehen. Der Kleine atmete selbständig. An einen Zufall glaubt Kammerer nicht.

Erstaunliche Geschichten wie diese hört man immer wieder, wenn Menschen, die beruflich mit Koma-Patienten zu tun haben, über ihre Erfahrungen berichten. Nur anhand von Beispielen gelingt es offenbar, den Zustand zu beschreiben, der bei Gesunden Angst auslöst und Mediziner rätseln lässt. Auch wenn es – zumindest auf den ersten Blick – so aussieht, als ob bei Koma-Patienten die Sinne abgeschaltet sind: Unter Experten hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass diese Menschen sehr wohl etwas wahrnehmen. Sie können riechen, schmecken, sehen, hören – in Einzelfällen sogar kommunizieren.

Die gängige Definition ist nicht aufschlussreich: Als Koma gilt ein Zustand ohne Bewusstsein und ohne Wahrnehmung der Umgebung. Professor Gustav Schelling, Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie des Klinikums Großhadern: „Dazu kann es durch schwere Hirnschäden nach  Schlaganfall oder Verletzung kommen. Oder der Arzt führt das Koma mit Medikamenten bewusst herbei, um dem Patienten Schmerzen zu nehmen und Zeit zum Erholen zu verschaffen, etwa nach einer schweren Operation.

 
Erste Berichte über Koma-Patienten stammen aus der Antike. Bereits damals rätselte man, welche Erfahrungen diese Menschen wohl machen. Schelling und sein Team haben im Rahmen einer Studie ehemalige Patienten befragt. „Wir wollten wissen, woran sie sich erinnern können“, erklärt der Anästhesist. Dabei stellten die Forscher fest, dass viele der Ex-Patienten Erinnerungen an Menschen, persönliche Kontakte und Gespräche hatten. Oft jedoch war die Zeit im Koma durch Alpträume, Wahnvorstellungen und Halluzinationen geprägt.

Als Folge solcher Studien hat sich in den letzten Jahren der Umgang mit Koma-Patienten verändert. Auf den Großhaderner Intensivstationen der Klinik für Anästhesiologie beispielsweise wird der Gesundheitszustand des Patienten nicht mehr am Krankenbett besprochen. „Manche der Betroffenen scheinen dabei Informationen aufzuschnappen und diese irrational oder wahnhaft zu verarbeiten“, sagt Schelling. Darüber hinaus versuchen die Pflegekräfte auch bei Routinetätigkeiten, den Patienten einzubeziehen: Maßnahmen wie das Absaugen der Lungen werden angekündigt.

Bewusstsein ist nicht messbar
Ein Problem bei der Arbeit mit Koma-Patienten besteht darin, ihren Zustand genau einzuschätzen. Denn Bewusstsein ist keine messbare Größe. „Mit technischen Untersuchungen kommt man nicht weit“, erklärt Professor Thomas Henze, Neurologe und Ärztlicher Direktor des Reha-Zentrums Nittenau. Zum Beispiel hilft die Ableitung der Hirnströme nur wenig. Mehr Aufschluss gibt die körperliche Untersuchung durch einen Neurologen. Meist nutzt der Arzt dabei bestimmte Koma-Skalen, die sich auf das beobachtete Verhalten der Patienten stützen, etwa ihre Reaktion auf Schmerzreize. Aber auch damit bleibt die Beurteilung ein schwieriges Unterfangen.

Das gilt insbesondere für das Wachkoma, einen Zustand, der oft auf schwere Hirnschäden nach Unfällen oder Schlaganfällen zurückzuführen ist. Obwohl die Patienten mit offenen Augen im Bett liegen, können sie keinen Kontakt mit der Umwelt aufnehmen. „Mit aufwendigen bildgebenden Verfahren lässt sich manchmal eine gewisse Stoffwechselaktivität im Gehirn nachweisen“, sagt Henze. „Vermutlich sind solche Bereiche also nicht ganz funktionslos.“ Doch was passiert dort? Handelt es sich vielleicht um Inseln des Bewusstseins?

Armin Lenk spricht nicht von Bewusstseinsinseln. Für ihn lebt seine Freundin Angelika Schafer (Name geändert) seit drei Jahren in einer anderen Welt. Die 39-Jährige liegt im Wachkoma und nimmt trotzdem vieles wahr. „Wenn zum Beispiel jemand vorbeigeht, dreht sie den Kopf. Ich spreche mit ihr, als ob sie voll bei Bewusstsein wäre“, berichtet Lenk, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Schädel-Hirnpatienten in Not e.V. Und Angelika Schafer antwortet: mal mit einer Geste, mal mit einem Laut und stets mit den Augen. Lenk: „Die sagen mir, dass sie noch ein bisschen Zeit benötigt. Aber sie kämpft, denn sie will wieder aufwachen.“

Dazu ist Hilfe nötig. „Koma-Patienten brauchen mindestens einen Menschen, der an sie glaubt und sie regelmäßig besucht“, sagt Kammerer. „Sonst wachen sie nicht auf.“ So gesehen stehen Angelika Schafers Chancen nicht schlecht: Fast jeden Tag erhält sie Besuch von einem Familienangehörigen oder ihrem Freund.

Apotheken Umschau; 25.07.2006


Herr Kammerer, wie nehmen Sie Kontakt mit Koma-Patienten auf?

Ich habe mir ein bestimmtes Schema zurechtgelegt. Zunächst bleibe ich in der Tür stehen und sehe mir den Patienten an. Ich achte auf die Umgebung, auch auf die Apparate, die Atmung und Herzschlag anzeigen. Erst dann gehe ich ans Bett, ganz nah an eine Seite des Patienten. Zunächst stelle ich mich vor, dann sage ich: „Ich bin hier, um Sie zu besuchen. Ich sehe, dass Sie atmen. Das ist ein Zeichen, dass Sie leben.“

Was machen Sie anschließend?

Wenn es möglich ist, versuche ich mit meinem Atemrhythmus dem des Patienten zu folgen. Das ist oft dessen einzige sichtbare Aktivität. Die Wahrnehmungsschwelle der Patienten ist sehr hoch, so dass – wenn überhaupt – erst nach 20 Minuten mit einer Reaktion zu rechnen ist.

Worauf achten Sie?

Vor allem auf den Atemrhythmus. Da merkt man minimale Veränderungen. Die können eine Reaktion darstellen. Bisweilen nehme ich auch kleine Bewegungen wahr, etwa der Augen oder der Finger. Das melde ich dem Patienten zurück.

Was sollten Angehörige beachten?

Wesentlich ist, dass sie überhaupt da sind. Das gibt dem Patienten das Gefühl, dass an ihn geglaubt wird. Aber direkte Fragen überfordern ihn. Am besten ist es, wenn Angehörige ihrer Intuition folgen und sich gefühlsmäßig auf den Kranken einlassen. Wichtig ist, diesem wertschätzend zurückzumelden, wenn man Reaktionen wahrnimmt.