Menschen in veränderten Bewusstseinszuständen und Koma

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In tiefem Schlaf

Jährlich versinken 100000 Menschen in Deutschland im Wachkoma. Vegetieren diese Menschen nur dahin – oder ist dies ein Zustand von eigenem Wert? Artikel von Petra Thorbrietz, erschienen in "Menschen - das Magazin" 3/2006.

Wenn das Wetter schön ist und nicht zu kalt, macht Karl-Otto Mackenbach einen Radausflug. Er packt seine Frau Anne warm in ihren Rollstuhl, schnallt sie fest, damit sie nicht den Halt verliert, und setzt sich dann hinter sie auf den Sattel. Sein Lenker ist mit der Lehne des Stuhls verbunden, und mit den Pedalen treibt er das dreirädrige Gefährt an. Die Nachbarn haben sich längst an den Anblick gewöhnt, nur Fremde bleiben manchmal noch stehen und sehen den beiden hinterher.
Der Fahrtwind streicht Anne Mackenbach um das Gesicht, und das Pflaster rüttelt unter ihrem Sitz. Ihre Nase wird von der Sonne gekitzelt, sie atmet den Duft von Rosen und frisch gemähtem Rasen. Vielleicht. Denn was die 46-Jährige von ihrer Umgebung wahrnimmt, weiß niemand. Vor fast sieben Jahren war die Mutter von drei Kindern auf der Fahrt in einen Camping-Urlaub verunglückt und unter ihrem Wohnmobil begraben worden. Der Notarzt holte die Leblose ins Dasein zurück. Seither liegt sie im Koma.
Nein, sie liegt eben nicht, zumindest nur die eine Hälfte ihres Lebens. Anne Mackenbach sitzt im Rollstuhl, steht aufrecht auf spezielle Gerüste geschnallt, ihre Muskeln werden durch elektrische Massagegeräte stimuliert oder im Wasser bewegt. „Von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends“, sagt ihr Mann, „hat meine Frau ein ausgefülltes Programm: Sie erhält zu essen, dann Krankengymnastik, wird auf den Bewegungstrainer gesetzt, später kommen Ergotherapeut und Logopädin zu ihr.“

Ohne Stimulation kann sich das Gehirn nicht regenerieren, darauf baut der ehemalige Postzusteller, der sein ganzes Leben und das seiner Söhne (9, 15 und 17 Jahre) rund um seine kranke Frau neu aufgebaut hat. Denn im Pflegeheim, davon ist er überzeugt, werden Komapatienten vor allem medikamentös ruhiggestellt und damit aufgegeben. Nur die Familie, sagt er, könne mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrer Liebe und Vertrautheit, das im Körper eingeschlossene Wesen seiner Frau erreichen: „Sie war immer diejenige, die uns zusammengehalten hat, und sie ist es auch jetzt.“
Aber wer ist Anne Mackenbach heute? Ist sie immer noch die Person, die sie vor ihrem Unfall war? Viele Neurologen sagen nein, denn ihr fehlen zentrale Teile der Verbindung zwischen dem Hirnstamm und der Großhirnrinde, demjenigen Teil des Organismus, der für die Verarbeitung der Sinneseindrücke und das Bewusstsein zuständig ist. Im medizinischen Sprachgebrauch wird dieser Zustand auch „persistierender vegetativer Status“, PVS, genannt – ein Begriff, der inzwischen umstritten ist. Denn er bezeichnet eine Existenz, die nicht mehr in Kontakt mit der Umwelt treten, nicht kommunizieren und deshalb auch nicht mehr lernen kann. „Was für ein Blödsinn“, sagt Mackenbach. „Wenn meine Frau nicht mehr will, dann zeigt sie das sehr deutlich. Dann macht sie die Augen zu und schläft einfach ein!

100000 Menschen fallen in Deutschland jährlich in eine Bewusstlosigkeit, die länger als eine Woche anhält, in ein Koma – das griechische Wort bedeutet „tiefer Schlaf“. Ihr Gehirn wurde schwer geschädigt. Viele davon sind junge Menschen, die Opfer eines Verkehrsunfalls wurden: Schädel-Hirn-Verletzungen sind bei den unter 45-Jährigen die häufigste Todesursache. Ein Koma kann aber ebenso die Folge eines akuten Sauerstoffmangels sein – nach einem Herzstillstand, durch Ertrinken, einen Selbstmordversuch oder einen Narkosezwischenfall. 40000 der Betroffenen tragen bleibende psychische und neurologische Schäden davon. Drei- bis viertausend von ihnen scheinen sogar ihre Persönlichkeit zu verlieren: Sie erwachen zwar, beginnen wieder selbständig zu atmen, zeigen Gefühle wie Angst und Entspannung – aber sie können von sich aus keinen Kontakt zu ihrer Umgebung aufnehmen und Eindrücke nicht richtig verarbeiten.
Was den Menschen und seine Persönlichkeit ausmacht, das ist Ansichtssache. Und selbst die Fortschritte der Gehirnforschung geben keine erschöpfende Antwort darauf. Nur wenige Wachkoma-Patienten, das steht fest, werden wieder zu denen, die sie einmal waren. Die meisten werden ihr Leben lang künstlich ernährt, viele lange durch eine Maschine beatmet, manche reagieren auf gar nichts, andere auf manche Reize wie Licht oder Berührungen, einige antworten – aber nicht so, wie man es erwarten würde. Die Literatur verzeichnet „auftauchendes Bewusstsein“ oder „inselförmige Wachheit“ in „kognitiven Einzelbereichen“. Zu deutsch: Das Gehirn erkennt seine Umwelt, manchmal.

Der Tod der Amerikanerin Terri Schiavo im vergangenen Jahr hatte das ganze Dilemma des Wachkoma-Streits ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht. Nach einem Herzinfarkt hatte die damals 26-jährige Frau 15 Jahre lang im Wachkoma gelegen. Ihr Mann hatte schließlich die Einstellung der künstlichen Ernährung gefordert und gerichtlich – gegen die Eltern der Patientin – durchgesetzt. Die Debatte um diesen Fall erhitzte sich an der Frage, ob damit Terri Schiavos Recht auf Sterben durchgesetzt oder sie, die sich nicht wehren konnte, getötet wurde.

Weit weniger beachtet von der internationalen Öffentlichkeit starb 1992 in England der 20-jährige Anthony Bland, der drei Jahre zuvor das Opfer einer Massenpanik geworden war, als Teile des Fußballstadions von Hillsborough zusammenbrachen. Weil die Prognosen der Ärzte negativ blieben, konstatierte das oberste Gericht schließlich, dass keine Behandlungspflicht mehr für ihn bestehe. Als Bland beerdigt wurde, lag Andrew Devine, der bei demselben Vorfall ins Koma fiel, noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit. Fünf Jahre später drückte er zum ersten Mal mit einem Finger einen Schalter und begann so, mit seinen Eltern zu kommunizieren: Einmal hieß „Ja“ und zweimal „Nein“. Heute ist er zwar immer noch stark behindert, kann aber schlucken und Nahrung aufnehmen.

Das Schicksal der beiden Briten ist beeindruckend, aber was sagt es aus? Jedes Koma ist anders, auch wenn seine unterschiedlichen Schweregrade durch die international gültige Glasgow Coma Scale geregelt sind. Und Fehldiagnosen sind nicht ungewöhnlich, wie Keith Andrews vom Royal Hospital for Neurodisability in London herausfand. Von 40 Patienten, berichtete er im British Medical Journal, verfügten 17, also fast die Hälfte, über mehr kognitive Fähigkeiten, als ihre Ärzte ihnen zutrauten. Viele wurden schlichtweg nicht in eine Position gebracht, die es ihnen ermöglicht hätte, über Bewegungen oder mit Hilfe eines Schalters zu kommunizieren. Nachdem das geändert worden war, konnte einer der Patienten nach sieben Jahren „Koma“ sogar einen Liebesbrief an seine Frau diktieren.
„Wir testen das Bewusstsein immer nur mit negativen Reizen, zum Beispiel Schmerz“, kritisiert Frank Riehl, aktives Mitglied im Selbsthilfeverband „Schädelhirnpatienten in Not“. Der langjährige
Intensiv-Krankenpfleger hat sich unter anderem in Neurologie, Kinästhetik und Sonderpädagogik weitergebildet und arbeitet heute als Intensivtherapeut in Kiel vorwiegend mit Komapatienten. „Warum können wir nicht auch positive Reaktionen wahrnehmen?“

„Grüß Gott, Frau B., ich bin es“, begrüßt Thomas Kammerer, katholischer Seelsorger am Münchner Universitätsklinikum Großhadern, eine reglose Koma-Patientin auf der Intensivstation. Wegen ihrer schlechten Prognose scheint ein Reha-Aufenthalt wenig erfolgversprechend, deshalb soll sie demnächst in ein Pflegeheim gebracht werden. Der Pfarrer aber will das nicht akzeptieren. Er besucht Frau B. täglich und „arbeitet“ mit ihr, bis zu einer Dreiviertelstunde lang. „Ich berühre jetzt Ihren Arm“ sagt er zum Beispiel zu ihr und tastet nach ihrem linken Handgelenk. Den sanften Druck seiner Finger richtet er nach dem Rhythmus ihrer Atmung aus und wartet konzentriert. Nach zwei bis drei Minuten zieht die Frau ihren linken Arm leicht in Richtung Brust. „Sie haben Ihren Arm bewegt, das ist schön“, sagt der Pfarrer, worauf die Patientin die Bewegung wiederholt. „Können Sie das noch einmal tun?“, fragt Kammerer. Zwei Wochen später kann Frau B. bereits mit ihren Augen ihrer Familie folgen, die sie besucht, und sie beantwortet Fragen über Signale mit „ja“ und „nein“. Kammerer hat einen Zugang zu ihr geöffnet und erreicht, dass sie nun doch auf eine Reha-Station verlegt wird.

Diese Arbeit des 42-jährigen Pfarrers ist durch Arnold Mindell inspiriert. Der amerikanische Physiker und Analytiker hat die Prozessorientierte Psychologie begründet, die sich insbesondere mit Zuständen am Rande des Lebens beschäftigt: mit Koma, Hirntod oder dem Sterbeprozess. Als Anhänger der Schule des Schweizer Psychoanalytikers C. G. Jung geht Mindell davon aus, dass das aktive Bewusstsein nur den kleinsten Teil der Wahrnehmungen des Menschen ausmacht. Gefühle und Empfindungen, so dieser körperorientierte Ansatz, sind nicht nur im gesamten Organismus, sondern auch in einem mythologischen Weltwissen verankert. In Träumen oder dem besonders intensiven Erleben von Extremsituationen trete es zutage.
Komapatienten, schließt Mindell daraus, seien weder dahinvegetierende Wesen noch biologische Maschinen, sondern im Gegenteil „wache Menschen, die durch ein bedeutungsvolles Stadium hindurchgehen“. Ihre Sinneseindrücke und Signale würden von gesunden Menschen oft nicht verstanden, könnten mit etwas Training aber erschlossen und therapeutisch begleitet werden.

Das Koma ist kein passiver Zustand, sondern eine aktive Schutzreaktion, sagen auch Neuropsychologen wie Andreas Zieger, Arzt am Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg und einer der führenden Rehabilitations-Experten Deutschlands (siehe Interview). Die Betroffenen seien zwar auf tiefste Bewusstseinsebenen zurückgenommen, aber gerade deshalb höchst empfindsam. Eine Therapie, so Zieger, könne ihnen helfen, ausgehend von diesem Kern eine neue, sinnvolle Lebensform für sich zu finden.
Im Krankenhausalltag heißt es dagegen oft: „Die braucht ihr gar nicht mehr zu besuchen – die merken nichts mehr“, weiß Pfarrer Kammerer. In den 1990er-Jahren war die Existenzberechtigung von Komapatienten deshalb auch öffentlich zur Diskussion gestellt worden. Könne sich, so hieß es, eine Gesellschaft überhaupt die dauerhafte Therapie von Patienten leisten, bei denen sich auch nach Jahren noch keine Besserung einstelle? Schließlich wurde sogar darüber diskutiert, die Betroffenen zu Organspendern zu machen.
Die Medizin rettet immer mehr Leben, also muss man auch die Verantwortung dafür übernehmen, wenn die Betroffenen nicht mehr selbst damit umgehen können“, setzt dem der Reha-Experte Florian Hess entgegen. Der Münchner Ergotherapeut betreut auf einer Pflegestation 27 bewusstlose Patienten. Eine oft frustrierende Arbeit, gibt er zu, denn was man in diesem Stadium der Betreuung erreichen könne, sei „sehr gering“. Doch er muss ihre Gliedmaßen und Gelenke beweglich halten. Weil die Wahrnehmung gestört ist, bekommen die Muskeln keine Rückmeldung mehr vom Gehirn: „Als Folge nehmen die Patienten eine immer verkrampftere Haltung ein, unbewusst, um einen Reiz zu provozieren – der aber ausbleibt. Das tut sehr weh, wenn man nichts dagegen tut. Und dass sie diesen Schmerz spüren, merkt man ihnen auch an.“
Dass Komapatienten durchaus auf ihre Umwelt reagieren, zeigten Versuche in den 1990er-Jahren, als Ärzte der Schmieder-Klinik in Allensbach erstmals elektrische Impulse des Gehirns maßen, die durch Töne ausgelöst wurden. Später konfrontierten die Mediziner Patienten mit gesprochenen Sätzen: Waren sie unsinnig, wie „Die Tomate ist Butterbrot“ statt „Die Tomate ist rot“, reagierten die Kranken mit einer Art Schreckreaktion der Gehirnzellen. Japanische Forscher erzielten überraschende Erfolge bei dem Versuch, verletzte Gehirnsegmente mit elektrischen Impulsen zu stimulieren. Andere Neurologen experimentieren mit Medikamenten, die den Botenstoffhaushalt des Gehirns und damit seine Aktivität wieder anregen sollen.
Moderne bildgebende Verfahren wie die Single-Photon-Emissionstomographie (SPECT), die Positronenemissionstomographie (PET) oder die funktionelle Magnetresonanztomographie (MRT) beweisen inzwischen, dass im Gehirn kleine Inseln aktiv werden, wenn zum Beispiel eine vertraute Stimme den Namen des Patienten ausspricht.
Kommunikation ist deshalb der wichtigste Ansatz, um Komapatienten aus ihrer Isolation herauszuholen. Neuropsychologische Verfahren setzen auf den Dialog: Über den Körper wollen sie die Sinne anregen, zum Beispiel mit der „basalen Stimulation“, einem Therapieverfahren, das in den 1970er-Jahren von dem Heilpädagogen Andreas Fröhlich entwickelt wurde. Berührung, Gerüche, Töne oder Licht sind Reize, welche die Sinne der Patienten anregen sollen. Ob dieser Kontakt gelungen ist, fühlt der Therapeut an der sich verändernden Atmung, dem Puls oder der Muskelspannung seiner Patienten.
Der Therapeut, so Fröhlich, handelt dabei „wie eine Mutter“: Er schafft Vertrauen, vermittelt Sicherheit und überfordert sein „Kind“ nicht: Die Reize, die er setzt, sind „allereinfachster Art: Sie fordern keinerlei Vorkenntnisse und Erfahrungen“. Ziel ist vor allem, die Aufmerksamkeit des Patienten zu gewinnen und ihn dazu zu bringen, Kontakt mit der Umwelt aufzunehmen. Dafür braucht es Geduld, Sensibilität und Zeit.
Die Realität in den Krankenhäusern ist jedoch eine andere: „Auf einer Intensivstation herrschen Zeitdruck und Hektik“, sagt der ehemalige Pfleger Frank Riehl. „Die Geräte stehen bei Menschen mit Schädelverletzungen alle direkt am Kopf des Patienten und geben laufend Alarm, wenn irgendwelche Werte entgleisen.“

Jeder dritte Kranke, der längere Zeit auf einer Intensivstation verbracht hat, entwickelt aus dieser erschreckenden Erfahrung ein psychisches Trauma, das ihn lange Jahre verfolgen kann, ergab eine Studie von Gustav Schelling, Professor für Anästhesie am Münchner Uniklinikum Großhadern. Dass auch Bewusstlose vieles wahrnehmen, schildern einzelne Patienten, die aus dem Koma wieder aufgewacht sind. Sie habe die Ereignisse während ihrer Bewusstlosigkeit wie in einem Film gesehen, die Ärzte und Pfleger in schwarz-weiß, ihre Familie in Farbe, berichtete zum Beispiel eine Patientin.
„Traumland Intensivstation“ – Pfarrer Thomas Kammerer organisierte im vergangenen Herbst am Münchner Uniklinikum Großhadern einen Kongress unter diesem Titel, der zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum interdisziplinäre Erfahrungen mit bewusstlosen Patienten zusammenführte. Das Interesse war riesig, es meldeten sich dreimal mehr Menschen an, als Plätze zur Verfügung standen. „Am wenigsten trauen sich die Mediziner, ihre Diagnosen zu hinterfragen“, resümiert Kammerer, „Obwohl viele von ihnen Erfahrungen gemacht haben, die in kein Lehrbuch passen.“
Das Bewusstsein eines Menschen sei eben nichts, was „am Ende“ zum Körper hinzukomme und erst dann das Individuum ausmache, hat der Neurologe Paul Schönle, Vorstand der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation und Chefarzt eines Reha-Zentrums in Magdeburg, einmal in einem Interview gesagt. Es durchdringe stattdessen die verschiedenen Schichten des Seins. Schönle verglich das mit einer russischen Matrjoschka-Puppe, die immer neue Abbilder von sich selbst enthüllt – bis hin zu kleinsten Varianten.
Herr S. ist trotz seiner 44 Jahre zu seinen Anfängen zurückgekehrt. In Windeln und mit einem Katheter liegt er im Therapiezentrum Burgau zwischen Ulm und Augsburg, hilfloser als ein Baby. Durch einen Luftröhrenschnitt erhält er Sauerstoff, über eine Sonde fließt Nahrung in seinen Magen. Die Folgen eines schweren Autounfalls füllen mehrere Seiten seines Diagnosebogens: eine offene Schädel-Hirn-Verletzung, Quetschungen und Blutungen des Gehirns in mehreren Bereichen, fast jeder Knochen des Gesichts zerschmettert, eine Lungenquetschung und -entzündung durch eingedrungenes Magensekret, entgleisender Stoffwechsel durch die Funktionsstörungen im Gehirn – um nur einige zu nennen. „Als Herr S. vor zwei Wochen nach zehn Tagen Intensivstation zu uns kam“, sagt Chefarzt Berthold Lipp, „stand er noch mit einem Bein im Grab.“ Heute, glaubt Lipp, ist Herr S. „auf dem Weg heraus aus dem Koma“.
Unnatürlich bleich liegt der blonde Mann in seinem Bett, sein Atem ist unregelmäßig und schwer, die Hände bewegen sich wie unbewusst im Schlaf, während zwei Physiotherapeuten, ein Mann und eine Frau, an ihm arbeiten. Langsam, unendlich langsam lagern sie den Patienten in vielen einzelnen Schritten auf die linke Seite, greifen dabei an den Punkten an, die er irgendwann selbst wieder mobilisieren soll, versuchen, ihm ein Gefühl für seinen Körper zu geben. Drähte führen zu Monitoren, die Atemfrequenz, Puls und Blutdruck überwachen und dabei auch zeigen, was Herr S. als unangenehm empfindet, denn dann schnellen alle Werte nach oben.
Ein paar Zimmer weiter ist der 19-jährige Tobias untergebracht, auch er das Opfer eines Autounfalls, mit ähnlich schweren Kopfverletzungen, dazu aber noch vielen internistischen Komplikationen an Herz, Lunge und Nieren. Drei Monate Rehabilitation haben ihn soweit gebracht, dass er selbständig atmet, aufrecht sitzen und auch gefüttert werden kann. „Aber wenn ich versuche, mit ihm Kontakt aufzunehmen, schließt er die Augen, als wolle er nicht“, sagt die Schwes-ter, die ihn pflegt. „Er kommt uns deprimiert vor.“ Auch jetzt lässt Tobias den Kopf auf seine Brust sinken, nachdem er die Besucher mit großen Augen fixiert hat. „In diesem Zustand könnte ich ihn nicht mit nach Hause nehmen“, sagt seine Mutter, die ihn jeden Nachmittag besucht, mit leichter Verzweiflung. „Er muss einfach noch besser werden.“
Nils, 21 Jahre, demonstriert im Therapieraum, dass er ohne Probleme alleine laufen kann. Er atmet, spricht, isst und verdaut wieder ohne Hilfe, und nur eine bald 15 Zentimeter lange Narbe über seiner Stirn zeugt noch davon, dass ihm ein Teil seines Schädelknochens wiedereingesetzt werden musste nach seinem schweren Unfall, an den er selbst sich nicht erinnern kann. Nils hat es geschafft, bald wird er zu einer anschließenden Heilbehandlung in eine andere Reha-Klinik verlegt – nach nur zwei Monaten.
Nur jeder dritte der Patienten in Burgau, die allesamt schwerste Vorgeschichten haben, bleibt schwer pflegebedürftig. Viele können nach ihrer Entlassung ein mehr oder weniger selbständiges Leben führen. Trotzdem machen die Krankenkassen Druck. „Wir müssen immer häufiger Anträge auf immer kürzere Verlängerung stellen“, sagt Chefarzt Lipp später auf dem Flur. Dabei bekommt sein Zentrum die Patienten immer früher und in oft noch instabilem Zustand von den Kliniken überwiesen, weil die Intensivplätze teuer sind. „Wenn auch wir einmal nach festen Diagnoseschlüsseln arbeiten müssen, wie das in der Diskussion ist, werden unsere Einnahmen drastisch sinken, und dann müssen wir unsere Leistungen entsprechend einschränken“, fürchtet er. „Dann müssen wir selektieren und abwägen, bei wem sich die Therapie mehr lohnt. Ich finde das einen Skandal: Wir können nicht ein perfektes Notarztsystem aufbauen, das seinesgleichen in der Welt sucht, und die Menschen, die dadurch gerettet werden, hinterher aufgeben.“

Weitere Informationen: http://www.aktion-mensch.de

16.08.2006